Engel? | dailyprompt

Es gibt viele Menschen – ausschließlich Frauen – die mein Leben positiv beeinflusst haben. Oftmals kenne ich diese Frauen nur oberflächlich; sie zu beschreiben, würde ihnen nicht gerecht werden.

Da wäre zum Beispiel J., meine Oma, bei der ich viel Zeit meiner Kindheit verbrachte. Bei ihr habe ich mich geliebt gefühlt. Und akzeptiert, so wie ich bin. Bei ihr war ich gut genug. Sie war meine Rettung in der Kindheit. Sie war die erste Frau, neben der ich in einem Doppelbett schlief. Beim Einschlafen durfte ich ihre Hand halten.

C. war eine Mitschülerin im Schreibmaschinenkurs. Es war meine alberne Zeit. Das gefiel ihr. Sie beauftragte ihren älteren Bruder und dessen Freund herauszufinden, ob ich mit ihr gehen wolle. Ich wollte. Ich konnte aber noch nicht. Sie wollte mich küssen. Sie wollte Haut auf Haut spüren. Dafür war ich noch nicht reif. Mir genügte meine Albernheit. Durch sie lernte ich meine Eifersucht kennen und „besiegen”. Seitdem ist Eifersucht (fast) kein Thema mehr für mich.

M. war eine Mitsängerin im Jugend- und jungen Erwachsenenchor. Ich war in sie verliebt. Ich war schüchtern. Ich traute mich nicht. Durch sie lernte ich, dass ich mein Schneckenhaus auch mal verlassen muss. „Es reicht nicht, etwas zu wollen, man muss es auch tun.“

K. war eine Mitsängerin im Jugend- und jungen Erwachsenenchor. Sie war in mich verliebt. Ich jedoch nicht in sie. Sie offenbarte sich mir. Ich lehnte freundlich ab. Danach durfte ich sie nie mehr mit dem Auto nach Hause fahren. Durch sie lernte ich, Nein zu sagen und die Folgen zu tragen.

B. (siehe B.) war eine Mitsängerin – ihr wisst schon. Sie war mein Coming-out-of-age, meine Erwachsenwerdung. Mit ihr konnte ich zum ersten Mal küssen. Wir lagen Haut an Haut und mehr.

C. lernte ich im Friedensgrüppchen kennen und lieben. Bald heirateten wir. Sie brachte ein Kind mit. Jahre später adoptierten wir ein weiteres. Kurz darauf brachte uns das Jugendamt ein weiteres Kind zur Dauerpflege. Was uns anfangs verband, brachte uns später auseinander. Schleichend, bis es zu spät war. Durch sie und mit ihr lernte ich, was Verantwortung bedeutet – auch über die Trennung hinaus. Ohne die Trennung hätte ich mein inneres Kind nicht befrieden können.

S. war eine Nachbarin, die frisch verlassen war und sich einen Spaß daraus machte, andere Ehen zu zerstören. Fast wäre ich auf sie hereingefallen. Durch sie lernte ich, was es heißt, seinen Gefühlen nicht mehr vertrauen zu können, und wie leicht ich manipulierbar war. Die Sicherheit, meinen Gefühlen wieder vertrauen zu können, kam mit N. zurück. …

mein Leben haben
sehr positiv beeinflusst
so viele Menschen

… N. war eine entfernte Arbeitskollegin und gefühlt die (unerfüllte) Liebe meines Lebens. Wir arbeiteten drei Monate lang in einem Projekt zusammen. Nie ging ich leichter zur Arbeit. Einen Tag nach dem Ende des Projekts offenbarte ich mich ihr. Sie liebe mich nicht, schrieb sie – und chattete drei Monate lang jeden Abend stundenlang mit mir. Plötzlich war Funkstille. Wie ich später erfuhr, heiratete sie kurz danach. Sie hat es mir verschwiegen. Durch sie konnte ich die Leichtigkeit des Seins spüren und anschließend die Schwere einer tiefen Traurigkeit erleben.

C. war nur ein kurzer virtueller Kontakt, der mir die Augen und das Herz für das unsägliche Leid geöffnet hat, das wir den Tieren antun. Durch sie begann ich, mich pflanzlich zu ernähren und vegan zu leben.

J. war eine weitere entfernte Arbeitskollegin, in die ich mich ebenfalls verliebte. Leider hatte ich das falsche Geschlecht. Auch mit ihr arbeitete ich drei Monate lang in einem Projekt zusammen. Wir hatten viel Spaß, aber sie hatte auch Schmerzen. Beim Marathon-Training rannte sie gegen eine herunterfahrende Schranke. Die Platzwunde am Kopf musste genäht werden. Ich übernahm den Krankentransport. Zum Abschied gab sie mir den entscheidenden verbalen Tritt in den Hintern, um meine Grübeleien zu beenden und mich aus meiner Ehe zu verabschieden.

N. ist meine beste Freundin. Wir können über alles reden und uns gute Ratschläge geben. Wir kennen uns seit fast 25 Jahren, unsere Freundschaft besteht seit 13 Jahren. Als wir einmal beide durchhingen, blieben wir an einem viel zu warmen Sommerabend mehrere Stunden lang umarmt auf einem Hinterhofparkplatz stehen, spürten den Herzschlag des jeweils anderen und atmeten im Gleichklang ruhig. Ich hätte niemals für möglich gehalten, wie eine solche Nähe unsere „Batterien” gegenseitig aufladen kann. Wir sehen uns einmal wöchentlich, seit vier Jahren auch mit ihrem Kind, das sie mit ihrem Ehemann hat. Mit ihm bin ich ebenfalls befreundet. Durch sie habe ich tiefgründiges Denken zu schätzen gelernt. Ich habe erkannt, dass es verlässliche und vertraute Beziehungen geben kann.

C. war ein weiterer kurzer virtueller Kontakt (wir haben auch ab und zu telefoniert). Sie ist eine tief introvertierte Frau, für die das Introvertiertsein völlig normal ist. Durch sie habe ich begriffen, dass ich selbst tief introvertiert und demisexuell bin. Das sind die revolutionärsten Erkenntnisse meines Lebens. So erklärten sich meine jahrzehntelangen Verhaltensweisen und ambivalenten Gefühle. Plötzlich fühlte ich mich nicht mehr falsch, sondern richtig. Die Ambivalenz verschwand. Es wird noch eine Weile dauern, bis ich die Rolle des Extravertierten vollständig abgelegt habe und einfach introvertiert sein kann.

T. b. c.

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Autor: Bernd @Krise? Welche Krise?

» ... Ist es möglich; daß man trotz Erfindungen und Fortschritten, trotz Kultur, Religion und Weltweisheit an der Oberfläche des Lebens geblieben ist? Ist es möglich, daß man sogar diese Oberfläche, die doch immerhin etwas gewesen wäre, mit einem unglaublich langweiligen Stoff überzogen hat, so daß sie aussieht wie die Salonmöbel in den Sommerferien? Ja, es ist möglich. ... « – Rainer Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, 1910 ====================

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