So große Narben, und keine Angst mehr.  |  On this day in music.

24.09.2021– | track: –Schweigende Schwestern– | artist: –Sarah Lesch, Karl die Große– | album: -Schweigende Schwestern-

Meine Geschichte beginnt in einer Kleinstadt. Alles, was davor war, habe ich vergessen.
Die Jungs waren alle älter und ich saß auf dem Rücksitz.
Die anderen Mädchen mochten mich nicht und große Schwestern gab es auch nicht.
Denn auch sie hatten Angst, trauten sich nicht, waren immer am Lachen und Lästern.

Mama sagte immer: „Sei nicht traurig“ und „Dein Lidstrich muss akkurat sitzen!
Du riechst wie ’ne Bordsteinschwalbe. Geh nicht bauchfrei, du musst dich schützen.“
Sie hatte gelernt, dass sie es schaffen muss, immer besser und immer allein.
Und die Schuld dafür, was aus mir wird, wird natürlich auch ihre sein.

Mein Stiefvater fuhr LKW, seine Wurstfinger waren immer schmutzig.
Er tauschte Pornos mit meinem Freund. Ich war wütend, sie fanden das putzig.
„Sei nicht so empfindlich, Mädel“, sagte er höhnisch und lachte.
Sein Schweigen war stets so gewaltvoll, dass es mir Bauchschmerzen bereitete.

Obwohl ich noch viel zu jung war, gab der Barkeeper mir einen aus.
Wir knutschten kaum, ich sollte gleich auf die Knie. Sein Schweigen war auch so laut.
Als ich mir meinen Teenagerhintern auf seiner Motorhaube verbrannte,
dachte ich, dass ich selber schuld bin, weil ich ja bauchfrei herumlief.

Er schwängerte mich hinterm Sportplatz, wegen der Schule hab‘ ich abgetrieben.
Die blauen Flecken waren leicht zu verdecken, was genau geschah, habe ich verschwiegen.
Noch lange spürte ich seine Blicke durch jedes Schlüsselloch.
Ich weiß noch, dass sein Bart nach Bier und Tabak roch.

Von da an war mein Körper gefährlich.
Mein Körper, meine Lust, mein Licht.

Von da an war ich gefangen, von da an versteckte ich mich.

Das ist vielen von uns passiert, das habe ich später erst erfahren.
Dass ich nicht allein bin, weil wir schweigende Schwestern waren.

Bis hierhin reicht diese Geschichte, und eine andere beginnt.

Und ich weiß, dass ich nicht allein bin, weil wir schweigende Schwestern sind.

Und ich frage mich: Wann hört das auf? Warum nennt niemand die Namen der Täter?
Warum fühle ich mich immer noch schuldig, so viele Jahre später?

Niemand muss damit allein sein, vielen ist so etwas passiert.
Und das wird so lange weitergehen, bis es niemand mehr still akzeptiert.

Sie sollen wissen: Es ist nicht zu viel verlangt, aus Vorsicht einmal mehr zu fragen.
Denn sie wissen längst, dass es kein Konsens ist, wenn wir aus Angst nicht „Nein“ sagen.

Sprecht ihre Namen, bis jeder sie hört, bis durchs Schlüsselloch der Kirchentür!
Ganz egal, wie kurz dein Rock war, du kannst gar nichts dafür!
Zwischen uns passt kein Blatt Papier, denn dieses Blatt wendet sich jetzt.
Wenn wir uns gegenseitig glauben, damit das hier für immer endet.

Sprecht ihre Namen, bis jeder sie hört, bis durchs Schlüsselloch der Küchentür.
Ganz egal, was du nicht getan hast, du kannst gar nichts dafür!
Zwischen uns passt kein Blatt Papier, weil sich dieses Blatt jetzt wendet.
Und jetzt komm unter meinen Flügel, damit das hier für immer endet!

Sprecht ihre Namen, bis jeder sie hört!
Zeigt eure großen Narben, zeigt sie ruhig her!
Sprecht ihre Namen, bis alle sie hören.
So große Narben, und keine Angst mehr.